Reise 2019 dt.

Reise nach Auschwitz 2019 Dokumentation


Auschwitz 2019

Block 5 im Stammlager, ich betrete den Raum, in dem Brillen und Gebetstücher ausgestellt sind. Jeder Gegenstand repräsentiert einen Menschen. Ich spüre den Schmerz in mir und lasse meinen Tränen freien Lauf. Es tut mir gut, dass jemand aus meiner Kleingruppe sich neben mich stellt. Ich kann mit meinem Schmerz sein und muss mich nicht zusammenreißen.
Beim Weitergehen durch den Block 5 erlebe ich auch wie ich taub werde, gefühllos. Es ist zu viel: Babyschuhe, Kinderkleider ——————- ich gehe weiter.

Ich sitze neben dem Eisenbahnwaggon, der auf dem Gleis in Birkenau steht und schaue auf den Zaun vor mir, der die unterschiedlichen Lager eingrenzt. Auf dem Weg zwischen den beiden Lagern vor mir wurden unzählige Menschen direkt nach ihrer Ankunft in die Gaskammern getrieben. In mir tauchen Bilder von einem endlosen Menschenstrom auf, es passiert jetzt, und gleich einem Mantra spreche ich innerlich: Ich sehe dich!Erstaunt nehme ich die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart wahr.


An einem Abend während unseres Austausches spürte ich in mir die Erschütterung über meine eigenen erlittenen Traumata und die meiner Eltern durch den Krieg. Und in mir gab es nicht mehr die Frage: „Darf ich mich mit meinem Schmerz zeigen im Angesicht des Holocaust?“ Ich konnte meine Gefühle nicht länger zurückhalten und fühlte mich mitfühlend und liebevoll gehalten von der Gruppe. Tiefe Dankbarkeit erfüllt mich noch heute für diesen heilsamen Prozess.



Auschwitz Juni 2019

Stammlager Auschwitz. Als wir das Lager betreten, verschwimmt alles um mich herum, ich kann mich nur langsam bewegen, die Luft fühlt sich ganz dicht an. Ich bete immer wieder das Vaterunser. Nach einigen Schritten überkommt mich eine Flut von Traurigkeit. Ich muss heftig weinen, weiß nicht worüber. Solche Wellen kommen in den folgenden Tagen immer wieder, fühlen sich schmerzvoll und gleichzeitig wie Gnade an. Den gesamten Tag über nehme ich hauptsächlich mein Herzklopfen wahr, verbinde mich mit den Menschen auf den Fotos, fühle mich in sie hinein.
Das Lager ist einfach auf einer anderen Ebene des Seins. Die Zeit wird unwichtig, dehnt oder komprimiert sich. Menschen laufen an mir vorbei, ich sehe sie zwar, habe aber das Gefühl, irgendwie daneben zu stehen, als wäre ich in einen Film gestiegen. In den Ausstellungsräumen fokussiere ich die Exponate, es kommt Entsetzen und Mitgefühl auf. In einem Raum sieht man einen Berg an Brillen! Hinter jeder Brille ein Mensch, denke ich. Wie viele Brillen waren es wohl insgesamt, wie viele Brillenträger unter 6 Millionen? In einem anderen Raum: Schuhe, Schuhe, Schuhe. Dann Koffer. In einem Schaukasten sehen wir Kinderkleidung, vielleicht ein zweijähriges Kind. Tränen und Herzschmerz überkommen mich. Wie kann man Leben so sehr missachten? Anschließend ein halber Raum voller Haare! Eine geführte Gruppe rennt daran vorbei…

Wir laufen langsam, in kleineren Gruppen. Es fühlt sich gleichzeitig schwer und getragen an. Traurig wie Begräbnisse und wie eine lange Kontemplation. Auf einem der Bilder sieht man Menschen, die aus dem Zug steigen. Ich schaue sie an und auf einmal erscheint vor meinen Augen eine unendlich große Menschenmenge. Sie stehen alle einfach nur still da und schauen, es sind ganz viele Köpfe, unendlich viele. So viele, so viele denke ich und weine. Es erscheinen mir noch weitere, auch schreckliche Bilder. Doch ich kann sie ansehen, ich fürchte mich nicht. Nur zu Beginn, am ersten Abend, habe ich Angst empfunden, danach nicht mehr. Ich wundere mich darüber und es scheint mir nun auch unwirklich, dass hier die Sonne scheinen und auch Bäume wachsen können...

Dann die Gaskammer. Ein Raum, in dem tausende von Menschen umgebracht wurden. Ich flüchte mich ins Denken. Hier ist das Unfassbare so nah, hier kann ich nicht fühlen, bin ganz taub und schaffe es nur eine Weile irgendwie zu stehen. Gehe dann an den Öfen vorbei und denke, wie es gewesen sein muss, diese Öfen zu befeuern, während daneben Menschen starben.

Lager Birkenau. Gleich zu Beginn sehe ich Gesichter. Ältere Männer, die ich ganz klar erkennen kann. Ich sehe euch!, sage ich zu ihnen, dann verschwimmen und verschwinden sie. Wir laufen ganz langsam durch das Lager bis zu einem Waggon, der mitten auf dem Gelände steht. Wie muss es gewesen sein, auszusteigen und über dieses Lager zu blicken? Die Menschen wurden nach der Ankunft in Reihen aufgestellt. Wie muss es gewesen sein, zur Arbeit eingeteilt zu werden und zu sehen, wie die eigene Mutter und die Kinder in der anderen Reihe stehen, um gleich zu den Gaskammern gebracht zu werden? Wie muss es gewesen sein, das Kind an der Hand zu führen und zu wissen, was ihm gleich geschieht?
Weiter hinten, in einem kleinen Wäldchen standen die Menschen zwischen den Bäumen und warteten, bis die Gaskammern leer wurden. Schlangestehen für den Tod. Ich verbinde mich mit ihren Augen auf den Bildern. Sie wissen, was hier passiert, was gleich mit ihnen geschehen wird… Zwischen den Bäumen wabert die Angst, man fühlt es heute noch.

Wir erreichen das zerstörte Krematorium 4. Ich spüre, wie ich gegen eine unsichtbare Wand stoße als wäre ich ein gegenpoliger Magnet. Plötzlich fällt mein linkes Augenlid zu, ich kann es nicht mehr öffnen, es ist wie verklebt. Dann dreht sich, wie ferngesteuert, mein Kopf vom Krematorium weg. Ich fühle Traurigkeit und verkrampfe mich, es wird mir übel. Aber ich halte das aus. Ich öffne mein Herz, atme durchs Herz, lasse los, vertraue darauf, dass nur das kommt, was ich sehen darf und schließlich bewegen sich Gefühle durch meinen Körper. Nach einer Weile dann Entspannung, Gnade, Dankbarkeit und ein zarter Faden verbleibender Traurigkeit. 
Zu Hause angekommen, spüre ich in der abendlichen Meditation Sehnsucht nach Auschwitz. Das verwirrt mich ein wenig. Ich denke an die kraftvolle Energie, die ich über dem Aschefeld am Krematorium 5 wahrgenommen habe. Dann kommt mir ein Satz in den Sinn: An der äußersten Grenze des Schreckens wartet die Liebe. Ja, das ist es, was ich erfahren habe: die Liebe umfasst alles. An solchen Orten wie Auschwitz können wir mit unseren Herzen einen Wandel für uns selbst und wenn wir dürfen, auch für die Welt bewirken.

Auschwitz  sei wie ein Vergrößerungsglas, habe ich gehört. Und wir wissen, was geschieht, wenn Licht durch ein Vergrößerungsglas fällt…



Am letzten Tag, vor dem Tor mit dem Schriftzug „Arbeit macht frei“ sitzend hörte ich den Satz in mir „Auschwitz ist in mir“.

Auschwitz war nicht mehr außerhalb von mir, ein Verbrechen, das irgendwelche Deutschen vor über 70 Jahren begangen hatten. Diese Weitung meiner Wahrnehmung war möglich nachdem ich mein eigenes tiefstes Trauma, die Bedrohung meines Lebens noch im Mutterbauch, fühlen konnte. Das Hinabsteigen in mir ermöglichte die Weitung meines Raums.

„..es ist in mir...“, ein Teil meiner Geschichte, was das bedeutet erfasse ich erst nach und nach. Ich bin 6 Jahre nach Kriegsende geboren, der Krieg und seine Traumata sind in meinen Zellen, in meinen Knochen. So empfinde ich es. Meine Eltern waren keine Nazis und doch waren sie und ihre Art zu leben von der Naziideologie durchtränkt. Meine Mutter sagte immer, „das Leben ist Kampf“. Es ging darum, besser als andere zu sein. Das Zusammenleben in unserer Familie war eher kühl und folgte strengen Regeln, teils bedingt durch die Traumata meiner Eltern, teils aufgrund der Erziehungsregeln aus dem Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“: Kinder wurden nur zu bestimmten Zeiten gefüttert, man sollte sie schreien lassen, denn das stärkt die Lungen und nur nicht zu oft in den Arm nehmen, sie könnten sonst zu Tyrannen werden. Es galt, ihren Willen zu brechen. Hinter der Kälte meiner Eltern und ihrer Unfähigkeit Herzensbeziehungen aufzubauen, habe ich ihre Verlorenheit und die Wunden gespürt, die der Krieg in ihnen hinterlassen hat. Mittlerweile empfinde ich sowohl eine klare Abgrenzung von ihnen, ein klares Nein für die Verbrechen, an denen sie mittelbar teilhatten, als Deutsche und als Wehrmachtsoldat; und ich empfinde auch Verständnis für sie und eine tiefe Liebe zu ihnen. Wie abgeschnitten von ihrer Menschlichkeit mussten sie gewesen sein, damit sie so teilhaben konnten und sich so verblenden lassen konnten. Und wie haben sie sich dadurch noch tiefer traumatisiert. Meine Eltern waren Menschen und haben auf ihre Weise, auch das Leben geliebt, weitergetragen, Liebe und Leben geschenkt.

„..es ist in mir...“, in meinen Zellen spüre ich den Schmerz, die Verkrampfung, die Angst, die Wut. In der Nacht begleitet sie meinen Schlaf seit Tagen, schon immer? Ist es meine Wut, meine Urangst oder empfinde ich die Angst, von Menschen, die bestialisch in Auschwitz-Birkenau hingeschlachtet wurden? Oder kann ich ihre Angst, ihre Verzweiflung „nur“ im Licht, durch und in den Bildern, dem Empfinden meiner eigenen Verzweiflung und Angst spüren. Noch in Berlin, auf dem Platz unter dem damals Hitlers Bunker stand, fühlte und sah ich die Nazis als Pappkameraden, als Figuren, die innen hohl sind, keinen Kontakt zum Boden haben; eigentlich müsste man sie einfach umwerfen können. Auch ich habe mich früher oft hohl empfunden, wie eine Ton Figur ohne Kern. Aber das stimmt so natürlich nicht, denn Nazis sind/waren viel eher Betonklötze. Ich konnte auch den schwarzen, schweren Nazi-Energiewirbel spüren, in dem sich all die abgespaltenen Gefühle und Ängste verklumpt haben zu einer rasend kalten Vernichtungsenergie. Eine Energie, die ich auch manchmal in mir wahrnehme, meine eigene Wut auf alles. Frühere hatte ich öfters Fantasien, einfach mal eine Bombe in alles zu werfen, zu vernichten. Diese meine Beziehungslosigkeit, mein eigenes Getrenntsein von der Welt, den anderen; mein Herz und meinen inneren Kompass nicht mehr spürend, habe ich in den Tagen
nach meiner Rückkehr von Auschwitz sehr schmerzhaft empfunden. Und doch gelingt es mir immer schneller wieder in Kontakt zu kommen. Ein vom Wind bewegtes grünes Blatt vor dem unendlichen Blau des Himmels, was für ein Geschenk.

„..es ist in mir...“, ich bin eine deutsche Frau. In Auschwitz hatte ich manches Mal auch Mitgefühl mit den Tätern, ihrer Abgeschnittenheit, ihrem Getrenntsein von Gott.Wie war es nur möglich, dass sie so gehandelt haben, so viele Menschen bestialisch hingeschlachtet haben? Was ist in ihnen vorgegangen? Wenn ich da mehr hineinfühleund denke, kommt Widerwille, Ekel, Verzweiflung auf und wieder Schmerzen im Unterleib. Diese Schmerzen im Uterus waren auch da am ersten Tag in Auschwitz. Diese Schmerzen empfinde ich wie eine Urbedrohung des Lebens, der Fähigkeiten Leben schenken und umsorgen zu können. Dann kommt wieder die Wut und die Angst. Denn diese Leben vernichtende Energie ist immer noch da: „Der Schoss ist fruchtbar noch..“ (B. Brecht) und lauert an jeder Ecke. So empfinde ich es. Vor Tagen war ich östlich von Nürnberg wandern, in einer wunderschönen Gegend, in der vor tausenden von Jahren Kelten lebten. Und just in den Berg, auf dem die Kelten lebten, mussten KZ-Häftlinge Stollen treiben, damit BMW dort geschützt Flugzeugmaschinen bauen könnte. Es kam nicht mehr dazu. Doch mindestens ein halbes Jahr mussten die Häftlinge jeden Tag durch eine kleine Stadt und weitere Dörfer 6 Km hin und zurück laufen. Abends oft die Toten des Tages mittragend. In dieser wunderschönen Gegend ist mein Vater auch als junger Mensch gewandert. Auf diesem Berg konnte ich all die Schichten meiner Herkunft schmerzlich und tief verunsichert fühlen.

„...es ist an mir“ nicht in diesem Dunkel und in Traurigkeit zu versinken. Mich Tag für Tag meiner Anbindung zu erinnern. Wahrnehmen, dass ich die Toten am meisten ehre, wenn ich das Leben liebe, es wertschätze und ehre. Genau dieses Leben, dass die Nazis so vielen Menschen absprachen und vernichtet haben. Tief in mir spüren und unendlich dankbar sein, dass dies ihnen nicht gelang. Dass ich mit einem Menschen jüdischer Herkunft den Mittelweg in Auschwitz-Birkenau gehen konnte. Den Weg den tausende von Häftlingen jeden Tag in die Gaskammern gehen mussten. Hand in Hand gehen, an seiner tiefen Erschütterung und Trauer teilhaben dürfen und fühlen, dass so langsam etwas zusammen wächst, was nie hätte zerschlagen werden dürfen.




Schon in der 6monatigen (oder noch längeren?) Vorbereitungsphase auf die Auschwitzreise tauchte das Thema Täter-Opfer auf und ist aktiv bearbeitet worden:

meine eigenen Täter-Opfer-Seiten im Hinblick auf meine Vorfahren und den Holocaust sind mir viel bewusster geworden, auch konnte ich das Gefühl Täter oder Opfer zu sein und welche Konsequenzen es hat, intensiv spüren ... so ist mir bis heute viel klarer, dass ich stets Opfer und/oder Täter sein kann.
In Auschwitz war ich sehr beeindruckt, wie wir uns als Gruppe gefunden und einander anvertraut und durch unsere Ehrlichkeit auch zugemutet haben: eine internationale Gruppe aus jüdischen und nicht-jüdischen TeilnehmerInnen. Das war eine der stärksten Erfahrungen für mich auf dieser Reise. Die Konfrontation mit der systematischen Vernichtung der Juden in Auschwitz und Birkenau hat mich damit konfrontiert, wie wenig ich fühle bzw. wie stark ich meine Gefühle abgespalten habe. Veränderungen in meinem Leben nach Auschwitz: ich spüre die feinstoffliche Verbindung zu den anderen TeilnehmerInnen bewusster. Ich nehme Impulse auf bzw. frage mehr nach: so werde ich bald auf meine Nachfrage hin die Tagebuchaufzeichnungen über die Flucht der Familie meines Onkels aus Ostpreußen lesen dürfen.

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